Der Verkehr unter ihr kam nur mühsam von der Stelle. Die Autos reihten sich auf wie Plastikketten: gelbe, rote, blaue, schwarze Autos; kleine, große, riesige Autos; Autos mit Sternen vorne drauf, dennoch graue Wolken hinter sich her ziehend. Konnte man das, von hier oben gesehen, wirklich einen Stau nennen? Für Marisa glich es eher einer ausgeklügelten Choreographie farbiger Buchstaben und Symbole, die zwangsläufig das ganze wohlgeordnete Chaos zum Ausdruck brachten, welches Tag für Tag die Prager Straßen beherrschte. Sie hatte es ganz in die Hände des Zufalls gelegt, was sich in dieser Ursuppe mechanischer Transportmittel ereignen würde. Ein Unfall mit Todesfolge? Ergreifende Demonstrationen menschlicher Würde? Synthese aller zur Verfügung stehenden Sinne? Wie lächerlich! Aber es half auch ein wenig, wenn sich nichts ereignete. Immerhin würde die Hoffnung andauern. Denn irgendwann…irgendwann würde es soweit sein. Der Mensch, bereits mit einem Bein auf dem Mars, würde der Wahrscheinlichkeit ein Schnippchen schlagen. Der Verkehr dünnhäutig wie eine Nase im Winter. Oder: Der Verkehr und die 4. Dimension, welch ein Dissertationsthema! Bis dahin aber zuckelte man in Schrittgeschwindigkeit vor sich hin, Unregelmäßigkeiten so gut wie ausgeschlossen, da überwacht von Marisas unerbittlichem Blick, barbarische Hupgeräusche verhindern die vollständige Gerinnung, kein Grund zur Panik. Vereinzelt steigen Insassen aus, von plötzlicher Eingebung getrieben, dass es noch andere Geschäfte zu verrichten gilt. Oben auf der Brücke greift Marisa nach dem Mineralwasser zu ihren Füßen, trinkt einen Schluck, gibt die Flasche weiter, worum sie der geheimnisvolle Begleiter gebeten hat, den sie eine geraume Zeit schon in ihrem Nacken spürt.
Marisa dachte an Zufälle, eben jene Dinge, die einem von Zeit zu Zeit zu- fallen, und dass man ihnen auf halben Wege entgegen kommen müsste. Wohl deshalb stand sie noch immer hier in einigem Abstand zur Erde, unbequem und berechnend, nunmehr seltsam gefährdet durch die Zudringlichkeit dieses Fremden. Ein Schluck Wasser, gerade jetzt, wo es spannend wurde! Warum hatte Sie nicht einfach warten können, dass ihr Flug endlich ging? Sie hatte die Wohnung verlassen, kurz vor Beginn der Rushhour, nachdem sie jede ihrer geliebten Jazz- Platten anderthalb Mal gehört hatte, nur um dann den Plattenspieler ungerührt stehen lassen zu können, weil er keinen Platz in ihrem Gepäck fand. Die Stimme von Billy Holiday, die diesmal nicht ohrenbetäubend aus ihrem Zimmer drang, sondern aus einem der Jazz- Cafes irgendwo da draußen, moderierte die natürliche Melancholie ihres Abschieds; sie dachte an kühle Haut, die sie mit ihren Fingern betastete, und an die Kühle des Abends, in die sie gebettet wäre, wenn es geschähe. Sie schaute ein letztes Mal auf den Verkehr unter ihr, und beschloss – fast schon trotzig- zur anderen Seite der Brücke zu tanzen, dorthin, wo sie die Musik vermutete. Emil, der Stumme, packte sein Stativ zusammen und folgte ihr, tropf, tropf.
Marisa fühlte seine Gegenwart; sie war sich so sicher, dass er folgte, dass sie, endlose Haken schlagend, es einfach so hinnahm, als Symbol letzter Tage. So musste es wohl sein, wenn nichts mehr zu tun ist. Der Plattenspieler drehte sich unermüdlich in ihrem Kopf. Nichts mehr zu tun, nichts mehr zu tun. Billie Holiday, die ihre Stimme verliert, aber hier in diesem Kopf ist es 1946. Also was? Dann heftet sich irgendjemand an deine Fersen, weil er ein Geheimnis wittert, welches, dringt man tiefer, wiederum nur seine Bodenlosigkeit offenbart. Das Stipendium, welches Marisa dieses Geheimnis ermöglicht hatte, lief aus, gleichbedeutend damit, dass sie, zumindest vorübergehend, zurück nach Kroatien musste, ins Land der vergessenen Ahnen. Sie tanzte nun den Tango, den Paso Doble, den Salsa, die Merengue, die ganzen lateinamerikanischen Standards. Sie redete von Ballett wie von einer Kinderkrankheit, und sie bekam Drinks spendiert, wenn sie in diesen kleinen Club argentinischer Einwanderer ging, wo’s nach Schweiß und Tränen roch. Mehr konnte man beim besten Willen nicht von einem Jahr verlangen.
Trotzdem lebte man noch immer im tiefsten Europa, was sich dadurch bemerkbar machte, dass sich die kleinsten Nichtigkeiten zu tiefgründigen Gesprächen ausweiten konnten. Hatte sie zum Beispiel nebenbei erwähnt, dass sie einige Platten von Billie Holiday besitze, konnte sich das Gespräch blitzartig in eine Auseinandersetzung über die Vor- und Nachteile digitaler Nachbearbeitung verwandeln. Fragte sie den Falschen, zum Beispiel ihren Mitbewohner Jann Thei, nach einer Zigarette, konnte ein Vortrag über die geringe psychoaktive Wirkung von Nikotin die Folge sein. „Du solltest mehr Pot rauchen.“, hatte der gesagt. „Das hilft über die Aufregung hinweg.“
Marisa dachte nicht daran, „über die Aufregung hinweg zu kommen“. Das Geflecht an Beziehungen und Themen schien real zu sein. Der Jazz: ein Zeichen der Zeit, die Menschen: ein Zeichen der Zeit. Es breitete sich aus bis in die dunkelsten Nischen, denn wann immer sie jemanden kennen lernte, musste sie feststellen, dass es mindestens einen gemeinsamen Bekannten gab, mindestens ein gemeinsames Thema: und sei es Tanzen.
Marisa ließ es dabei bewenden, denn diese Stadt hatte etwas Universelles, was es den Menschen darin leicht machte, zu bleiben, nicht allzu viel zu denken und zuallererst Bewohner Prags zu sein, wohinter Geschlecht, Alter, Nationalität und Konfession zur Bedeutungslosigkeit schrumpften. Marisa war der kleinste Teil einer monumentalen Stadt, in deren Kirchen, Moscheen und Synagogen jeden Tag Messen gelesen wurden, deren Straßensystem verwirrender war als die richtige Ausführung eines Ocho*, einer Stadt, die getränkt war von mystischer Dialektik: Menschen fuhren unterirdisch zur Arbeit, sie dachten und fühlten unterirdisch, auf Trab gehalten vom Murmeln unterirdischer Quellen, die ihnen auftrugen die Ordnung ihres architektonischen Museums aufrecht zu erhalten. Diesem Museum, in dem vor Jahrhunderten der Platz ausgegangen war für neue Anschaffungen.
Marisa war zurück in den Resten ihres Zimmers, welches sie mittlerweile in den drei großen Taschen, mit denen sie voriges Jahr angereist war, untergebracht hatte. Sie hatte sparsam gelebt, im täglichen Gebrauch von Geschenken und Leihgaben, Komplimenten und Gesprächen. Der Plattenspieler (das einzige Ding, das in Prag bleiben durfte) stammte vom Flohmarkt, gekauft am Tag ihres Einzuges in die Ruskova 23. Während Billie Holiday „Am I Blue“ säuselte, was -in den Worten eines Ex- Freundes- eigentlich nur bedeutete, dass die Rillen der 45er eine nach der anderen ihr Werk taten, betrachtete sie zum ersten Mal auch jenes Stativ, das Emil, der Stumme, ihr sozusagen als Gastgeschenk vor die gegenüberliegende Wand gestellt hatte. Auf deren makelloser Weiße hatte sie oft den eigenen Schatten beobachtet, im künstlichen Licht der Leselampe oder in der Verzweiflung des Augenblicks. Links neben dem Stativ stand eine unscheinbare schwarze Tasche, die vermutlich reichlich gefüllt war mit den Fotographien des stummen Emils. Und Sie ? War sie wirklich schon so abgebrüht, nichts, aber auch gar nichts über ihre Bettgefährten wissen zu müssen? Angenommen, es hätte sich nicht um letzte Tage gehandelt, dann hätte sie sicher vorher einen Blick auf die Bilder werfen wollen, das sollte jedem klar sein…
Also, was soll’s. Sie nahm es sportlich, befreite sich aus Emils Armen, die krakenartig ihre Brüste umschlangen, und rollte auf die andere Seite des Zimmers. Die Tasche war bereits offen, doch statt den erwarteten Schnappschüssen fand sie nur Notizen in einer Sprache, die sie nicht verstand, eine altgediente Practica und den Schlüssel eines Schließfachs. „Da hast du aber Glück gehabt, mein Junge.“, dachte sie, sich ihrer Gehässigkeit schämend, und legte sich wieder zu Emil, der unruhig schlief, mit Schweißperlen auf der Stirn und einer deutlich spürbaren Erektion. Marisa wollte es wieder gutmachen, und musste dazu nichts weiter tun, außer ihr Gesäß ein wenig anzuheben, ein wenig Druck und Wärme mit ihren Schenkeln zu erzeugen, Teil der Maschinerie seines Traumes zu sein.
War es für Emil das Träumen, welches Erleichterung verschaffte, so waren es bei ihr die Gedanken- nichts Spezielles, keine Ideen für eine utopische Gesellschaft, keine Zahlen, die sich wie von Zauberhand in einer einzigen vereinten, nur ein Gesicht und eine sanft wiegende, flüssige Bewegung, kurz auftauchend aus einem Meer ähnlicher Gesichter und Bewegungen. Marisa, das schwere Keuchen Emils im Ohr, dachte sich zum Orgasmus: orgasmische, orgasmierende, orgasmanische Marisa, du musst nichts tun außer…außer…aah!
Beneidenswerte Fähigkeit, selbst in ihren Augen.
Dann beschloss sie, Emil zu bitten, noch einen Tag zu bleiben, um ein paar Fotos von der Brücke und dem Verkehr zu schießen. Vielleicht auch nur, um in der Gegend zu sein.
Wie seltsam er war! Wie seltsam er sie anblickte! Dieses schüchterne Blinzeln, mit dem er jede Bewegung gleichsam in eine unendliche Folge von Einzelbildern, Momenten auflöste!
Sie stellte sich Emil vor, wie er in der Straßenbahn kauerte, ganz verloren zwischen den Haltepunkten. Zwei Minuten bis zum Platz des Friedens, zwei weietere bis zur Pavlova, vielleicht auf einen Sprung ins Radost, nein doch nicht, morgen vielleicht, Suskova, Ruskova, immer genau zwei Minuten, bis wir aufwachen, bis das Wasser kocht, bis Billie Holiday…
Sie schreckte hoch von einem Pfeifen, das entfernt an „As Times Go By“ erinnerte. Jann Thei, ihr Mitbewohner, pfiff unter der Dusche, was er sehr selten tat. Marisa hatte den Eindruck, dass er ihr etwas sagen wolle. Sie zog den Morgenmantel an und öffnete die Badezimmertür.
„Ah Marisa! Reichst du mir mal die Seife.“
„Hier.“
„Guter Kerl?“
„Sicher. Er ist gerade erst angekommen, sein Gepäck ist im Bahnhof.“
„Kann ich was für dich tun?“
„Kannst du dich morgen um ihn kümmern? Ich bin mit Lydia verabredet.“
„In Ordnung. Wer übernimmt das Telefon?“
„Ich zieh das Kabel raus.“
Ein Taxi hatte Emil und Marisa zurück gefahren, eine bemerkenswerter Sachverhalt. Nachts um halb 4 ist ein Taxi weit der Wahrscheinlichkeit entrückt. Es ist dann nicht mehr als ein äußerst seltenes Teilchen beim Zusammenstecken eines Puzzles. Als sie ihn bat, innerhalb der nächsten 30 Sekunden ein Taxi anzuhalten, da hatte sie nach einem Beweis Ausschau gehalten. Schließlich musste es nichts bedeuten, dass er neben ihr gestanden hatte auf der Brücke, dass er sich von ihr angezogen fühlte, als sie nichts wollte außer zu schweigen und den Verkehr zu betrachten. Er tanzte passabel, auch wenn sie nach einer Weile den Profis den Vorzug gegeben hatte. Also sagte sie es, ein bisschen verärgert und dominanter als sie wollte. „Du kannst mitkommen, wenn du es schaffst.“
Sie hatte es trotzdem gehofft und bereits im Taxi gingen sie sich an die Wäsche. Kurz bevor sie in die Ruskova einbogen, hielt sie inne. „Wie heißt du eigentlich?“ – „Emil. Man nennt mich den Stummen.“ – „Ein komischer Name. Wieso nennt man dich so?“ – „Weil ich nichts sage.“
Sie lachte. „Mein Name ist Marisa. Ich bin Tänzerin, ich mag Schlitzaugen und Hosen, die man mit dem Futter nach außen tragen kann. Ich sage das, weil nicht viel Zeit ist für uns beide. Ich fliege übermorgen zurück nach Hause, nur damit keine Missverständnisse aufkommen.“
Lydia schmunzelte, als Marisa ihr den Hergang der Geschichte erzählt hatte. „Und er ist jetzt bei dir?“, fragte sie. „Ja, Jann kümmert sich um ihn, auch wenn sie sich wohl nicht viel zu sagen haben werden.“ Lydia schüttelte missbilligend den Kopf. „Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, deine Liebhaber immer wieder aufeinander abzuschießen. Das ist ein wenig wie verrückte Wissenschaftlerin spielen. Nur dass Menschen keine Versuchsanordnungen sind, über deren Verlauf man ein Testprotokoll anfertigt, um es der staunenden Öffentlichkeit zu präsentieren.“
Marisa nippte an ihrem Kaffee. „Es ist nur ein Spiel, ein Muster, das uns alle betrifft, und hinzu kommt, dass du selbst nicht besser bist.“
„Bevor wir uns darüber streiten“, wiegelte Lydia ab, da ihr eine Diskussion hierüber in der Tat ungelegen kam, „lass uns lieber über etwas anderes reden. Zum Beispiel über Tanzen.“
Währenddessen ziehen Jann Thei und Emil, der Stumme, durch die Innenstadt, überwältigende Barockbauten all the way down, Aufstieg und Fall der Psychoanalyse, Faschismus und Kommunismus, Vergewaltigung der Kultur, wenn das nicht ein Widerspruch in sich ist. Jann glänzt in der Rolle des beflissenen Pragers, der die Eigenheiten seiner Heimatstadt ins rechte Licht zu rücken versteht. Sie besuchen die Teynkirche und die Altneusynagoge, die Judengräber und die Wenzelskapelle, praktisch jeder Winkel der Altstadt und auch die Kleinseite jenseits der Moldau wird von ihren Füßen erkundet. Am Abend landen sie in einer dunstigen Untertagekneipe, die –sag’s nicht zu laut- den Einheimischen gehört.
„Prager zu sein bedeutet in gewisser Weise, im Dienste einer größeren Sache zu stehen.“, beginnt Jann seinen Monolog, „ich bin auch nur ein Zugereister, vielleicht kann ich deshalb darüber sprechen und das Eigentliche haarscharf verfehlen. Man sollte damit beginnen, dass man postuliert, diese Stadt sei tief religiös. Nicht im Sinne von Frömmigkeit, sondern begründet durch das Fehlen von Ideologie. Wenn du zum Beispiel Deutscher bist- du bist doch Deutscher, oder? – dann schwimmt dein teures Erbe in dieser Brühe aus tschechischen Molekülen, amerikanischen Säuren, jüdischen Genen und so weiter, und gelangt nach einiger Zeit frisch gebadet an einen fremden Strand. Überall liegen Handtücher und mit einem davon wirst du dir den Rücken abrubbeln. Ha, ich bin so verwandelt! Entschuldige, das war vielleicht ein bisschen zu inquisitorisch. Man wird von allem ein bisschen, und das wiederum heißt: man wird Prager durch und durch. Bequem, cholerisch, weltoffen. Dein Kant und dein Nietzsche, deine ganze Sozialisierung kümmert die Stadt einen feuchten Dreck, da sie bereits überquillt von Historie, von Reliquien besserer Tage. Aber was bleibt übrig, mag man fragen? Was bleibt übrig von: meine schreckliche Kindheit unter einer stalinistischen Diktatur? Das ist es, worüber ich schreibe. Das ist es, worüber Rilke und Kafka geschrieben haben. Man ist, selbst im Sich- Abstrampeln und Den – Rest – Vergessen, auf sich selbst zurückgeworfen, auf das kleine Rädchen, das man hier ist. Kafka schrieb: „Ich habe mein Leben damit verbracht, die Lust zu bekämpfen, es zu beenden.“ Verstehst du, weil es nichts gibt, dass einen festhält. Man macht einfach weiter, um weiterzumachen. Das macht diese Religiösität, die eigentlich keine ist, aus. In Wahrheit ist es pure Existenz, die man hier atmet. Also willkommen und lass dich nicht unterkriegen.“
Marisa und Lydia saßen nun im Radost und spekulierten über die Profession von Marisas neuer Eroberung.
Lydia: „Gut, ich fasse noch einmal zusammen, was wir wissen: Als du ihn getroffen hast, hatte er eine Kamera bei sich und ein Stativ. Er hat sich für den Straßenverkehr interessiert oder für dich oder für beides. Er ist also vermutlich Fotograf, heterosexuell und auf einer wichtigen Mission, zum Beispiel Urlaub. Dass er im Bett nur Durchschnitt ist, wird durch den Fakt ausgeglichen, dass wir ihn noch nicht kennen. Wenn er ein bisschen Geld hat, kannst du ihn mir morgen, bevor du fährst, vorstellen.“
Marisa (ein wenig unruhig, ihre Füße stehen nicht still): „Ich habe das Gefühl, dass ihn das gar nicht interessierte. Ihn interessierte nur das Spiel, die Möglichkeit mit mir mitzugehen. Du hättest ihn tanzen sehen sollen. Anspannung, Entspannung, Anspannung, Entspannung. Es war, als versuchte er mit seinem ganzen Körper, Fotos zu machen. Manchmal schaut er mich so traurig an und dann habe ich das Gefühl, ihm nicht zu genügen.“
Lydia: „Hör mal Schätzchen. Ich glaube, du interpretierst da zu viel hinein. Du willst, dass es aufhört, richtig? Du willst in dein Dorf zurückkehren, so unschuldig wie du warst. Aber der Tanz hört nicht mehr auf, wenn du ihn einmal begonnen hast. Du kannst 80 oder 90 sein und du würdest immer noch zu mir kommen und sagen: Ich bin so verliebt! Du brauchst mir nicht mit: er sieht so traurig aus, zu kommen. Das ist was für Nekrophile.“
„Das werden wir ja sehen.“, erwiderte Marisa, fest mit dem Fuß aufstampfend, vorweggenommener Triumph im Blick.
„Hat sie viele Liebhaber?“, fragte Emil.
Sie saßen nun ebenfalls im Radost, hatten Marisa und Lydia allerdings um 5 Minuten verpasst.
„Kommt drauf an, was du darunter verstehst“, gab Jann zurück. „In der Quantität wohl nicht. Aber sie liebt es, wie die heilige Mutter in der Mitte der Ihrigen zu thronen. Alle ihre Liebhaber bleiben beste Freunde. Frag mich nicht, was sie sich dadurch beweisen will. Weißt du, für gewöhnlich sehe ich meine Geschichten, das heißt Frauen und auch ein paar Männer, nicht wieder. Deshalb ist es eine Art Privileg für mich, mit ihr zusammen zu wohnen, zu beobachten, wie so eine Geschichte weitergeht, wenn die Kamera längst aus ist.“
Emil stieg durch die Erwähnung einer Kamera etwas Leben in die Wangen.
„Ich sehe die Muster im Chaos und sie bedrängen mich pausenlos“, improvisierte er, irgendwie genötigt, etwas zu erwidern. „Marisa hat mich dabei gestört. Ich wollte nicht in ihr Leben eindringen, nicht am Anfang. Ich wollte springen, um die Muster zu verewigen, sie ein für alle mal zum Stillstand bringen. Aber Marisa ging nicht weg, sie beschmutzte alles mit ihrem idiotischen Interesse daran, dass es irgendwie weiterging. Deshalb stand ich auf dieser Brücke und habe gewartet, und deshalb ging ich mit ihr.“
„Ja, es ist leichter, den Denkenden als das Denken zu töten.“, entgegnete Jann Thei kühl.
Marisa und Lydia standen vor einem der Schließfächer am Bahnhof.
„Du bist unglaublich dreist.“, zollte Lydia der Tatsache Tribut, dass sie wirklich einer solchen Absurdität verfallen waren. „Der CIA hätte sicherlich Verwendung für dich.“
„Ich will sie nicht stehlen, sondern nur einen Blick darauf werfen.“
„Okay, sitzt mein Lippenstift?“, fragte Lydia. “Du weißt ja, wie furchtbar diese Fahndungsfotos manchmal aussehen.“
Vorsichtig öffneten sie Emils Rucksack, wahrscheinlich ein Geschenk zum 16. Geburtstag, zerteilten seine T-Shirts, Hosen und Socken („Pink? – „Wieso nicht? Es ist…interessant. “), bis sie am Grund der Equipage auf einen großen, braunen Umschlag stießen.
„Das ist es, das Vermächtnis Emils, des Stummen.“, kreischte Lydia lüstern und zog damit kurzzeitig die Blicke der Vorbeigehenden auf sich. Verblüfft betrachteten sie das erste Foto, welches eine Schraube in extremer Vergrößerung zeigt. Und wie sie damit fortfahren, Foto für Foto genauestens zu untersuchen, nimmt ihre Verblüffung zu. Es ist Marisa, die als erste die Sprache wieder findet.
„Dafür braucht man Geduld.“, sagte sie bewundernd.
„Sehr viel Geduld.“, bestätigte Lydia.
Ein Jahr später…
Marisa und ihre Tochter besuchten Emil im Krankenhaus. Sie wohnte nach einem halben Jahr Kroatien wieder bei Jann, der der Vater ihres Kindes ist. Emil hatte es, obwohl im Kreise der Ehemaligen fast nie allein, geschafft, sich ungestört von der Brücke zu werfen, etwas glücklos, wenngleich aus seiner Perspektive nicht ohne Erfolg. Minutenlang kam der Verkehr tatsächlich zum Erliegen. Er brach sich ein Bein und den Knöchel seiner linken Hand. Marisa sagte lachend, dass man sich niemals dieselbe Stelle zweimal breche, eine Aussicht, die Emil als kontraproduktiv empfand. „Was wirst du jetzt machen?“, fragte sie zum Abschied.
„Ich glaube, ich werde auf dich warten. Immer und immer wieder, von Moment zu Moment.“